„Die letzten beiden Runden waren die längsten meines Lebens.“ Die Stimme des 17-jährigen Thüringers Ken Roczen zittert noch ein wenig, als er das Rennen Revue passieren lässt, das ihn zu einem historischen Sieg verhalf. „Das ist total verrückt, ich bin total gerührt. Ich habe geweint wie ein Baby. Das ist natürlich der schönste Moment in meiner Karriere. Es ist ein tolles Gefühl, im eigenen Land Weltmeister zu werden. Das ist das Beste was einem passieren kann.“
Er habe in dieser Saison viele Hochs und Tiefs gehabt, aber dieser Moment heute sei der absolute Höhepunkt. In den letzten Runden des zweiten Durchgangs sei ihm so viel durch den Kopf gegangen. „Ich wollte keinen Fehler machen und möglichst wenig an den Weltmeistertitel denken. Als ich dann aber über die Ziellinie gefahren bin, ist alles über mich hereingebrochen.“
Roczen war aber nicht der einzige, den Emotionen übermannten. 22.000 Fans - ein Besucherrekord für den MSC Gaildorf - waren am Wochenende bei hochsommerlichem Wetter ins Schwäbische gekommen, um die deutschen Fahrer anzufeuern. Und nicht wenigen standen Tränen in den Augen als feststand, dass Roczen sich vorzeitig den Titel in der MX2-WM gesichert hat. Der Weg dahin war ein wahrer Motocross-Krimi und wäre wohl ohne die Schützenhilfe des Briten Tommy Searle nicht möglich gewesen. Dessen Sieg im zweiten Durchgang kostete Roczens härtestem Konkurrenten Jeffrey Herlings nämlich die entscheidenden Punkte.
Den ersten Lauf konnte Roczen trotz Ausrutscher vor Searle und dem Schweizer Arnaud Tonus gewinnen. Herlings wurde nach zwischenzeitlicher Führung Fünfter - und verlor damit im Titelrennen wertvolle neun Zähler. Im zweiten Aufgalopp aber dominierte der Niederländer das Rennen und die Hoffnungen auf einen vorzeitigen WM-Titel für Roczen schienen ausgeträumt. Hätte Herlings das Rennen gewonnen, dann hätten Roczen drei Zähler auf den vorzeitigen Titel gefehlt. Durch Searles Überholmanöver in der 15. Runde war diese Gefahr allerdings plötzlich gebannt. Die Fans kannten ab da kein Halten.
Tommy Searle
Der Engländer freute sich für Roczen: „Ich hatte wohl noch nie so viele deutsche Fans. Ich fühlte mich, als wäre ich der deutsche Star. Ken Roczen hat diesen Titel mehr als verdient.“ Searle sicherte sich mit einem zweiten und einem ersten Platz auch die MX2-Tageswertung vor Roczen und Herlings. Dennis Baudrexl, der einzige Deutsche neben Roczen in dieser Klasse, wurde insgesamt 24.
Roczens Titel war längst nicht der einzige, der an diesem Wochenende in Gaildorf vergeben wurde. Der Italiener Antonio Cairoli wurde ebenfalls vorzeitig zum Weltmeister in der Königsklasse MX1 gekrönt. Er ist damit wie erwartet Fünffach-Weltmeister. Die Tageswertung ging ebenfalls an die alte und neue Nummer eins. Die Entscheidung fiel hier bereits im ersten der beiden Rennen über 35 Minuten plus zwei Runden. Steven Frossard, Cairolis einzig verbliebener Rivale, stürzte und musste nach einem Schlag auf den Brustkorb zur Beobachtung ins Krankenhaus. Damit war alles klar. Die WM-Shirts wurden ausgepackt.
Der Russe Evgenji Bobryshev - Laufsieger in Rennen eins - und Xavier Boog kletterten mit Cairoli aufs Podium. Max Nagl wurde Gesamtsiebter und steht damit im WM-Klassement weiterhin auf Position vier. Nagl hat intakte Chancen, sich beim letzten WM-Lauf im italienischen Fermo am kommenden Wochenende noch Platz drei im Gesamtklassement zu sichern.
Die weiteren deutschen Piloten in der MX1, Marcus Schiffer sowie die schwäbischen Lokalmatadoren Maik Schaller, Skatty Bihlmaier und Jens Voss platzierten sich auf den Rängen 11, 31, 32 bzw. 34.
In der MX2-Europameisterschaft feierten die Franzosen einen Dreifach-Triumph. Romain Febvre sicherte sich den Titel vor seinen Landsleuten Dylan Ferrandis und Charles Lefrancois. Ferrandis war mit zwei Laufsiegen der schnellste Pilot des Tages. Dem im Fahrerlager hoch gehandelten Teenager fehlten am Ende nur drei Punkte auf Febvre. Dennis Ullrich aus Rammingen wurde guter Tagesvierter.
In der Veteranen-Klasse fiel bereits am Samstag die Entscheidung. Den Titel holte sich der Belgier Pascal Bal vor dem Briten Philip Mercer und dem Spanier Alfredo Camps. Bester Deutscher in der Meisterschaft ist Stefan Dirnhofer aus Krün auf Rang 26.
Gesamtergebnis MX1
Gesamtergebnis MX2
Punktestand MX1 nach 14 Rennen
Punktestand MX2 nach 14 Rennen
Tony und Jill
Stimmen zum „Großen Preis von Europa“
Ralph Schweda, Vorsitzender des MSC Gaildorf: „Jeder Skepsis zum Trotz haben wir eine Veranstaltung auf die Beine gestellt, die ihresgleichen sucht. Alles hat gepasst, wir sind super zufrieden und freuen uns über den Besucherrekord und die vier Meistertitel. Das Sahnehäubchen ist natürlich der MX2-Weltmeistertitel von Ken Roczen. Es ist ein Traum, dass hier in Gaildorf gleich vier Entscheidungen gefallen sind. Es wurde Motocross-Geschichte geschrieben.
„Jetzt werden wir die Veranstaltung Revue passieren lassen, 2012 wird es aber keinen WM-Lauf geben. Wir richten im kommenden Jahr die ADAC MX Masters aus, sind aber positiv gestimmt was einen weiteren WM-Lauf eventuell 2013 angeht. 2013 veranstalten wir unser 50. Motocross-Rennen und so eine WM könnte das Rennen zu etwas Besonderem machen. Wir gratulieren Ken Roczen zu seinem Weltmeister-Titel und freuen uns mit ihm. Er hat uns an diesem Wochenende Gänsehaut beschert.“
Björn Brüggemann, Motorsportmanagement Red Bull Deutschland: „Das war für uns natürlich extrem spannend und der Wahnsinn, dass Ken Roczen daheim vor eigenem Publikum diesen Titel holt. So emotional haben wir Ken noch nie gesehen. Ken hat uns oft schon überrascht und das ist ihm auch heute gelungen. Wir werden ihn weiter unterstützen, auch wenn er jetzt in die USA geht. Helmut Wahl wird dort mit ausgebreiteten Armen auf ihn warten. Der Kreis schließt sich damit wieder, denn Wahl hat Ken Roczen damals zu Red Bull geholt. Heute gibt es noch ein kleines BBQ, groß gefeiert wird aber erst beim WM-Finale in Fermo am kommenden Wochenende.“
Ilona Beirer (Ehefrau von KTM Sportchef Pit Beirer): „Wir haben natürlich Jeffrey Herlings und Ken Roczen die Daumen gedrückt, da sie ja Teamkollegen sind. Das ganze Team war total nervös und sehr emotional. So einen Titel daheim zu gewinnen ist etwas ganz Besonderes und Pit hat ja zu Gaildorf auch eine besondere Beziehung. 1999 zerschlugen sich hier für ihn die Hoffnungen auf seinen Weltmeistertitel.“
Dreifach-Weltmeisterin Steffi Laier: „Ich war von der Atmosphäre in Gaildorf begeistert. Ich spreche aus Erfahrung, was das Publikum und die unbeschreibliche Stimmung betrifft, wenn deutsche Fahrer um einen internationalen Titel kämpfen. Die große Weltmeisterfeier von KTM steigt aber erste nächste Woche beim letzten Rennen der Saison in Fermo.“
Oli Maisch (drei Jahre lang Kens Mechaniker): „Ich habe seinen Weg zum Weltmeister-Titel Schritt für Schritt mitverfolgt. Das war ein unglaubliches Gefühl für mich, hier an der Strecke zu stehen und mit mehreren tausend Fans mitzufiebern. Gänsehaut und ein Kribbeln im ganzen Körper – nach Kens Leistung in den letzten Monaten hat er den WM-Titel absolut verdient. So ein Ereignis muss man einfach miterleben.“
Sylvia van Uden aus Holland ist mit ihrer Schwester extra nach Gaildorf gereist, um ihren Favoriten Jeffrey Herlings anzufeuern: „Das erste Rennen war für uns schon total spannend. Beim zweiten wurde das Publikum jedoch noch aufgeregter und an der Rennstrecke herrschte eine unglaubliche Stimmung. Obwohl Jeffrey nicht Weltmeister wurde und er Ken den Vortritt lassen musste, freuen wir uns für den Deutschen.“
